Sind die stabilen Distributionen am Ende?

Im Enteprise-Bereich der Linux-Distributionen – repräsentiert durch die Distributionen SUSE Linux Enterprise (SLE) und RedHat Enteprise Linux (RHEL) – vollzog sich in den vergangenen 12 Monaten ein von vielen kaum bemerkter Wandel. Still und heimlich verabschiedete man sich vom Modell der stabilen Linux-Distribution. Noch bevor neuartige Modelle wie Ubuntu Snappy oder XDG-Apps eine (R)Evolution der herkömmlichen Linux-Distributionen einläuten, könnte das Modell der stabilen Distribution am Ende sein.

Das typische Veröffentlichungsmodell einer Linux-Distribution war relativ einfach, wenngleich es für Anwender aus dem Windows- oder Mac OS X-Umfeld ungewohnt erschien. Eine große Menge an freier Software wurde in den Paketquellen zusammen gestellt, stabiliert, aufeinander abgestimmt und dann an den Endanwender ausgeliefert. Ursprünglich auf Datenträgern, später als Download einer ISO-Datei. Diese Veröffentlichung wurde dann über einen – je nach Distribution unterschiedlichen Zeitraum – mit Sicherheitsaktualisierung und Fehlerbehebungen versorgt. Dabei wurde – mehr oder minder dogmatisch – der Versionsstand vom Kernel bis zum Solitairspiel stabil gehalten. Neue Versionen und damit neue Funktionen gab es zum nächsten Distributionsrelease.

Vor einigen Jahren kamen vermehrt so genannte Rolling Release Distributionen auf, bei denen die neuen Softwareversionen gleich an die Anwender durchgereicht wurden. Diese Entwicklung war selbstredend nur durch bessere Internetzugänge und höhere Downloadraten möglich. Es spiegelte aber auch eine rasantere Entwicklung in der Linux-Welt. Software wurde immer schneller entwickelt, während die Distributionen mit ihren Releasezyklen zunehmend träge wirkten. Die Mehrheit der Distributionen blieb jedoch dem herkömmlichen Modell treu. Eine Zwischenstufe nahm immer Fedora ein, das zwar festgelegte Releasezyklen kannte, aber über die Updates neuere Versionen auslieferte.

Dieses Beispiel illustriert bereits, dass die Distributionen ein wenig bei der Frage variierten wie strikt dieses Modell umgesetzt wurde. Einige Distributionen waren in Ausnahmefällen bereit neuere Versionen als Wartungsupdate nachzureichen, andere Distributionen verfolgten hier einen dogmatischeren Ansatz. Im Grunde funktionierten sie dennoch ähnlich.

Den ersten Bruch mit diesem Modell vollzog SUSE bei der Veröffentlichung von SUSE Linux Enterprise Desktop 12 im vergangenen Jahr. SLED 12 wurde um so genannte Module ergänzt, deren Supportzeitraum deutlich von den offiziellen ca. 10 Jahren abwich. Ergänzt wurde diese Strategie durch partizielle Versionsanhebungen im Service Pack 1, das für diesen Herbst erwartet wird. Allerdings werden hier Desktopumgebung und Kernel noch stabil gehalten.

Einen ähnlichen Weg schlug die zweite große Enterprise-Distribution mit der kürzlich veröffentlichten Version 7.2 ein. Jede Hauptveröffentlichung von RHEL (und damit auch CentOS) wird in regelmäßigen Abständen durch Minorupdates ergänzt (z.B. 7.2). Es gab dort zwar schon immer einige kleinere Versionsanhebungen, diese zielten aber auf besseren Hardwaresupport und die Einführung halbwegs aktueller Serversoftware ab. Eine Enterprise-Distribution muss sich schließlich auch noch einige Jahre nach dem Release auf neueren Systemen installieren und sinnvoll betreiben lassen. Wichtige Bereiche wie Kernel und Desktop blieben jedoch in ihren Versionsständen stabil. RHEL 6 wird bis zum heutigen Tag mit GNOME 2 ausgeliefert, RHEL 5 liefert auch im Jahr 2015 noch ein KDE der Version 3.x aus. Hier vollzog man beim Distributor mit dem charakteristischen roten Hut als Logo nun einen markanten Bruch. Mit der Veröffentlichung von RHEL 7.2 wurde der GNOME-Desktop von Version 3.8 auf 3.14 (mit Paketen aus 3.16) angehoben.

Über die Gründe kann man nur mutmaßen. In der schnelllebigen Entwicklung des Linux-Desktops lassen sich veraltete Softwareversionen immer weniger sinnvoll pflegen und einsetzen. Zudem sind die Brüche innerhalb der 3er Serie des GNOME-Desktops natürlich nicht so ausgeprägt, wie zwischen GNOME 2 und 3.

Einen ähnlichen Weg geht auch das openSUSE Projekt mit seiner Leap-Version. Die Distributionsbasis wird zwar stabil gehalten und basiert immer auf der gleichen SLE-Version. Die Desktopumgebungen und Endanwender-Programme kommen jedoch aus dem Tumbleweed-Projekt und werden teilweise (Entscheidung des jeweiligen Teams) über Wartungsupdates kontinuierlich aktualisiert.

Sofern die Distributoren diese Aktualisierungen ausreichend testen (und davon ist vor allem im Enterprise-Bereich auszugehen) kann der Endanwender von der Entwicklung profitieren. Neue Funktionen und Fehlerbehebungen werden zeitnah an ihn weitergereicht. Dennoch ist das ein fundamentaler Bruch mit den Prinzipien stabiler Linux-Distributionen. Die Anwender können sich nicht mehr darauf verlassen, dass sich ihre Software über den gesamten Supportzeitraum nicht mehr verändern wird. Als stabile Distributionen im eigentlichen Sinne bleiben nur noch Debian und mit Einschränkungen Ubuntu, sowie dessen offizielle Derivate.

Man braucht deshalb kein Snappy und keine XDG-Apps um fundamentale Umbrüche bei den Desktop-Distributionen festzustellen.

Cruiz
Cruizhttps://curius.de
Moin, meine Name ist Gerrit und ich betreibe diesen Blog seit 2014. Der Schutz der digitalen Identität, die einen immer größeren Raum unseres Ichs einnimmt ist mir ein Herzensanliegen, das ich versuche tagtäglich im Spannungsfeld digitaler Teilhabe und Sicherheit umzusetzen. Die Tipps, Anleitungen, Kommentare und Gedanken hier entspringen den alltäglichen Erfahrungen.

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